Als ich wenige Minuten später endlich unser Wohnhaus erreichte und die dicke Holztür aufschloss glotzte mich ein älteres Ehepaar ungläubig an, fragte sich bestimmt, was eine seltsame Gestalt wie ich in einem schönen Fachwerkhaus zu suchen hätte und ob sie gerade Zeugen eines Einbruchversuches am helllichten Tage wurden. Ich ließ sie allerdings gerne grübelnd im Unklaren und die schwere Holztüre hinter mir ins Schloss krachen, stieg rasch die enge Wendeltreppe zum ersten Stock empor und betrat mein Zimmer in der untersten Wohnebene.
   Im gesamten Haus war es ungewöhnlich ruhig, offensichtlich schliefen meine Mitbewohner noch oder waren in der Stadt unterwegs, was mir auch nur recht sein konnte. Mein Körper plumpste erleichtert auf eine altes Sperrmüll-Sofa und winzige Staubteilchen wirbelten in den Strahlen der Vormittagssonne um mich herum. Ich beschloss den Rest des Tages ruhiger anzugehen, mir vielleicht eine kleine Mahlzeit und einige Tassen Kaffee zu gönnen oder mich einfach nur auf dem Sofa auszustrecken und ein gutes Buch zu lesen. Dieser Plan hörte sich gut an und als erstes zog ich meine Stiefel aus. Der rechte Stiefel stand schon fußlos neben mir und ich nestelte gerade an den Schürsenkeln des anderen herum, als ich im Flur das schnelle Tapsen von rennenden Pfoten vernahm und der Hund meiner Mitbewohner schwanzwedelnd und hektisch in mein Zimmer stürmte und mich kläffend begrüßte. Luzie, eine mittelgroße, pechschwarze Mischlingshündin mit weißem Bauch, Tochter einer Schäferhündin und dem unbekannt gebliebenen männlichen Teilnehmer eines schnellen Hunde-Quickies in einem dunklen Hinterhof, tobte in wohlbekannter hysterischer Aufregung in schnellen Runden im Zimmer herum. Sie wedelte in ihrer typischen Art derartig intensiv mit dem Schwanz, das ihr ganzer Hintern mitwackelte und kläffte sporadisch in der Hundesprache einige Botschaften heraus, die übersetzt bestimmt "Kein Arsch zu Hause, langweilig, bin ganz allein..." oder "Endlich ist einer da, los komm, gehen wir fünf Stunden spazieren!" bedeuten würden.
   Ich grinste belustigt und wich mit einer raschen Kopfbewegung ihrer hervorschnellenden Zunge aus, als sie mir einen Hundekuss geben wollte und ließ es zu, das Luzie sofort einen meiner Stiefel zwischen die Zähne nahm und stolz durch das Zimmer schleppte. Dieser komische Hund hatte ein wahres Faible für Schuhe aller Art entwickelt. Nirgendwo waren diese vor ihr sicher und nachdem es öfter passiert war, dass einbeschuhte, fluchend nach dem Gegenstück suchende Hausbewohner das halbe Haus auf den Kopf gestellt hatten und erst in der hintersten Ecke des Gartens fündig geworden waren, gewöhnten sich alle zwangsläufig an ihre Schuhe immer auf Schränken oder ähnlich hohen Möbelstücken sicher zu deponieren.
   Plötzlich erlahmte Luzies Aktivität, sie blieb stehen, das Schwanzwedeln erstarb, ihre Fänge ließen den Stiefel los und er polterte laut zu Boden. Überrascht starrte ich sie an, sah, wie sie den Stiefel mit ungläubigen Hundeblick anstarrte, als versuche sie herauszufinden, was mit diesem Schuh nicht stimmte. War es der Geruch, oder der Geschmack? Ihr Kopf drehte sich langsam mir zu, zwei dunkelbraune, feuchtnass glänzende Hundeaugen blickten mich an und ich sah tiefe Traurigkeit in ihnen, die ganze unendliche Tragik eines miserablen Hundelebens.
   Sofort musste ich an die traurigen Worte der alten Frau denken, sah jetzt direkt in ein dazu passendes Augenpaar und ein leichter Schrecken durchfuhr mich.
   "Nicht auch du, alte Luzie...", dachte ich verzweifelt und versuchte mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass jetzt auch schon Tiere Mitleid mit mir und dem Zustand meiner Kleidung hatten und traurig darüber waren wie arm und mittellos ein Mensch doch sein konnte.
   Ich versuchte aufgeregt eine Lösung für dieses Problem zu finden, dachte kritisch über den Zustand meiner Kleidung nach, kam aber zu keinem Endurteil, da Luzie ihren Blick wieder enttäuscht auf den Stiefel lenkte, zwei Sekunden später ihr Maul öffnete und hustend auf den Teppich kotzte.
   Eine schaumige, gelbliche Masse quoll aus ihrem Rachen und bildete einen tellergroßen Fleck. Luzie würgte noch einmal laut, drehte sich danach ohne mich oder den Stiefel noch eines Blickes zu würdigen einfach um und marschierte begeisterungslos aus dem Zimmer.
   Ich starrte das Erbrochene und den Stiefel daneben mindestens fünf Minuten verständnislos an, in meinem Schädel quietschten Synapsen und Neuronen irritiert wie ungeölte Fensterscharniere und als mir nichts mehr einfiel, warf ich alle guten Vorsätze über Bord und entnahm dem neben mir stehenden Kühlschrank eine kalte Dose Bier.
   Ein langer Schluck strömte die Speiseröhre hinab, ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich zurück.
   "Heute sind aber alle komisch drauf...", sinnierte ich und blies blauen Rauch gegen die Decke, "das kann ja noch heiter werden..."
   Die Asche meiner Zigarette löste sich genau einen Zentimeter vor dem Aschenbecher von der Glut und fiel auf den Teppichboden.
   Ich schüttelte den Kopf und griff zum Bier.

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