Es war ein absolut geiles Gefühl endlich wieder aufrecht zu gehen, alleine das ständige Hinaufschauen zu anderen Menschen empfand ich immer wieder als ein erniedrigendes Gefühl. Endlich konnte ich wieder anderen erwachsenen Menschen auf Augenhöhe gegenübertreten und man sah nicht mehr über mich hinweg oder auf mich herab.
   Diese für mich wichtige Erfahrung ließ mich wieder hoffungsvoll in die Zukunft blicken. Ich zog mich an den wenigen positiven Aspekten in dem negativen Gesamtschicksal hoch, stellte erstere in den Vordergrund meines Bewusstseins und begann das negative Schicksal als etwas Gegebenes zu betrachten. Eigentlich logisch, denn früher ärgerte ich mich auch nicht jeden Tag darüber nicht fliegen zu können, sah das Fehlen dieser Fähigkeit als etwas Gegebenes an. Das für mich Wichtigste war, dass meine Beine noch wie immer funktionierten. Zudem wies ich bis auf eine halbseitige Gesichtslähmung keine Lähmungen auf, und Erinnerung und Verstand waren durch die Erkrankung nicht beeinträchtigt worden. Somit hatte ich noch "Glück im Unglück" gehabt. Viele Menschen sind nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, und jemand der urplötzlich halbseitig gelähmt im Rollstuhl sitzt und keine Familie oder Partner/in hat steckt wirklich in der Scheiße. Auch in Bezug auf Erinnerung und kognitive Fähigkeiten konnte ich derartig urteilen: Für einen Menschen der von einem Tag auf den anderen nur noch den IQ eines Toastbrotes besitzt ist das bisherige Leben komplett vorbei. Bei mir waren ja nur einige Dinge wirklich für immer passé, Sachen wie "Konzertbesuche" oder "tanzen gehen" konnte ich getrost vergessen.
   Nicht nur die Tatsache, dass ich meine restlichen Fähigkeiten gerne zu Hause, alleine und in meiner eigenen Wohnung praktisch erprobt hätte ließ mich den Tag meiner Entlassung herbeisehnen, und wie viele Jahre vorher als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr begann ich meine restlichen Aufenthaltstage herunter zu zählen.

Seit dem Tag als ich im April 2003 nach Hause kam habe ich so einiges erlebt. Selbst wenn ich nur einen Teil der Ereignisse an dieser Stelle schildern würde wäre es eine gewaltige schreiberische Aufgabe und der Text würde schnell jeglichen räumlichen und zeitlichen Rahmen sprengen. Also lasse ich Erlebnisse wie "Flucht aus dem Krankenhaus" oder "Meia im Altersheim" bewusst weg, beschränke mich auf die Hauptthemen. Naja, vielleicht kann ich ja irgendwann diese Geschichten noch erzählen.

Zurück in meine eigene Wohnung war ich als erstes erstaunt darüber wie klein sie plötzlich war. Vor der Erkrankung hatte das kleine Apartment für einen gemütlichen Eindruck gesorgt, als ich dann auf einen vor mir her geschobenen Rollator angewiesen war, war plötzlich alles zu eng und manche Stellen der Wohnung konnte ich überhaupt nicht mehr erreichen. Die Idee der Rollatorbenutzung zeigte noch einen großen Vorteil. Dieser passte wenigstens durch den schmalen Badezimmereingang, war ungefähr einen Zentimeter schmaler als der Abstand zwischen den Türpfosten. Da der Rollstuhl viel zu breit für den schmalen Eingang war konnte ich dank Rollator wenigstens auf Toilette gehen.
   In den ersten Wochen sorgte die beschädigte Feinmotorik oft für versehentlich zerschlagenes Geschirr. Am anschaulichsten ist das mit dem Gasgeben in einem Auto zu vergleichen, wenn von einem Tag auf den anderen eine Pedalbetätigung für weitaus mehr Geschwindigkeit sorgt als vorher. So ähnlich ist das bei meiner Feinmotorik auch, Bewegungen sind oft viel stärker und damit weitreichender als früher. Einmal floss sogar Blut, als ich wie früher ein Brötchen in zwei Hälften zerteilte und dabei eine zu starke Schneidebewegung ausführte. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, und seit jenem Tag habe ich hunderte von Brötchen unfallfrei zerschnitten.
   Außerdem beschäftigte ich mich mit dem Neuerlernen des Schreibens auf der Tastatur, nutzte hierbei die Möglichkeiten einer speziellen Übungssoftware. Wenigsten hierbei konnte ich einen Erfolg erleben, auch wenn ich mich mit etwa einem Drittel meiner früheren Fähigkeiten zufrieden geben musste. Meine unleserliche Handschrift versuchte ich durch das tägliche Lösen zweier Kreuzworträtsel zu verbessern, und konnte als keine unausgefüllten Seiten mehr vorhanden waren zumindest in Blockschrift schreiben. Da ich vor meiner Erkrankung auch nicht sehr viel besser gewesen war stellte ich meine Übungen beruhigt ein.
   Leider sorgten meine Bemühungen ein Minimieren oder Verschwinden der Gesichtslähmung herbeizuführen für kein erfreuliches Endresultat. Obwohl ich mehrere Jahre lang Logopädie hatte und hier die Therapeutinnen versuchten per PNF meine Gesichtsmuskeln zu reaktivieren, war keinerlei Erfolg feststellbar. Mittlerweile liegt die Erkrankung über elf Jahre zurück und entgegen aller Prognosen ist die Facialisparese immer noch und genauso wie am ersten Tag vorhanden, ist nicht verschwunden oder hat sich wenigstens minimal zum Besseren gewandelt. Notgedrungen habe ich mich mit der Vorstellung abgefunden den Rest meines Lebens mit einem halbgelähmten Gesicht zu verbringen.
   Ende 2004 wurde ich wieder in ein Krankenhaus eingewiesen und besuchte eine zweite Reha. Die Erlebnisse dort waren wie erwartet vielfältig, eine gesundheitliche Minimalverbesserung durch die Therapien nicht feststellbar. Das hätte ich auch vorher sagen können. Zwei Begebenheiten möchten ich trotzdem schildern, da ich sie für lustig halte und sie mir zeigten wie es hätte aussehen können wenn alles noch schlimmer gekommen wäre:
   Patienten die durch die Erkrankung kognitiv beeinträchtigt waren, bekamen ein Pappschild mit dem Zielort ihrer Therapie um den Hals gehängt, wurden von einer Krankenschwester dorthin gebracht, dann alleine gelassen wenn sie zurück zur Station eilte. So auch bei einem im Rollstuhl sitzenden und halbseitig gelähmten Mann, und als er beim Abendessen neben mir saß war das Schild plötzlich nicht mehr um seinen Hals, sondern hing an dem Ohr seiner gelähmten Seite. Ich wusste nicht wie er das geschafft hatte, jedenfalls sah es lächerlich aus und er merkte nichts davon. Um ihn darauf aufmerksam zu machen tippte ich ihn an seiner gelähmten Seite an. Zu meinem Erstaunen zeigte er keinerlei Reaktion, so als ob er überhaupt nichts gespürt hatte. Anscheinend war seine linke Körperseite nicht nur gelähmt, sondern auch gefühllos. In diesem Moment dachte ich an meine eigene Facialisparese und daran wieder "Glück im Unglück" gehabt zu haben. Bei mir sind nur die Muskeln dieser Gesichtsseite gelähmt, die Sensitivität ist noch intakt und ich kann alles so wie vorher spüren. Auch wenn ich nie ein solches Schild umgehängt bekam weil ich mich in dem weitläufigen Krankenhaus alleine zurechtfand, hätte ich doch eine derartige Fehlpositionierung sofort bemerkt und wäre tätig geworden. Es ist echt ätzend wenn man auf einer Körperseite überhaupt nichts mehr merkt.
   Nach einem Schlaganfall kann sich eine fehlende Merkfähigkeit aber auch auf das Innere der Haarhalterungsextremität konzentrieren. Irgendwann beobachtete ich im Flur der Station wie ein äußerlich unbeeinträchtigt wirkender älterer Mann mit einer Krankenschwester sprach. Allerdings war er sichtbar als Patient gekennzeichnet und trug einen an die Brust gehefteten Anstecker mit der Aufschrift "Schlaganfall-Patient. Leidet an Aphasie". Ich war auf dem Weg in den Raucherraum, und als ich nach Genuss einer Zigarette eine Viertelstunde später zurückkam, kam mir jener Mann im langgezogenen Krankenhausflur entgegen. Sein Aussehen hatte sich etwas verändert. Anscheinend war er kurz vorher auf Toilette gewesen, trug nur noch die Unterhose und hatte vergessen die andere Hose hochzuziehen. Diese wirkte wie eine Fußfessel, ließ nur kleinste Schritte zu, aber trotzdem ging er unbeirrt seines Weges. Als ich einige Krankenschwestern aus ihrem Aufenthaltsraum herausstürzen und dem hosenlosen Mann hinterherlaufen sah, ging ich innerlich kopfschüttelnd an ihm vorbei. Offensichtlich litt er nicht nur an einer Sprachstörung, sondern der Schlaganfall hatte auch seine Wahrnehmung merklich beeinträchtigt. Am nächsten Tag erzählte ich einer Therapeutin von diesem Erlebnis. "Den kenne ich, der hat ein gutes Gangbild", antwortete sie und bestätigte damit meinen Eindruck von auffallend vielen auf fachliche Belange wahrnehmungseingeengter Therapeuten, für die die Realität oft nur eine vernachlässigungswürdiger Randeindruck war. Als mir dieser Mann am Vortag entgegengekommen war, hatte nicht sein Gangbild, sondern die heruntergelassene Hose meine Gedanken dominiert. Dieses Denken wäre wohl bei fast allen anderen Menschen genauso gewesen. Nur scheinbar bei Therapeuten nicht. Aber trotzdem war ich froh, dass mir so etwas nie passierte.

Zu Hause war ich im Gegensatz zu der fast ständigen Anwesenheit hilfebereiter Personen in einem Krankenhaus allein und musste ohne jegliche Unterstützung mit den Schwierigkeiten in einer für einen Rollatorbenutzer zu kleinen Wohnung fertig werden. Automatisch wurden die Gleichgewichtsstörungen, die praktisch jede Tätigkeit in aufrechter Haltung zu einem Problem machten und manches zur Unmöglichkeit werden ließen, mein vorrangiges Problem, nahmen im täglichen Leben einen weitaus höheren Stellenwert ein als in der Reha. Logischerweise sehnte ich hierbei eine Verbesserung herbei, war bereit für jede noch so kleine Verbesserung stundenlanges Üben in Kauf zu nehmen.
   Hilfe suchte ich hierbei bei Fachleuten, besuchte insgesamt sieben Jahre lang krankengymnastische Therapien, war Patient in mehreren Praxen, und mindestens vierzehn verschiedene Therapeuten (irgendwann hörte ich mit dem Zählen auf) versuchten sich an meinem Problem. Trotz aller Bemühungen war das Ergebnis stets gleich. Null, Nichts, keinerlei Änderung feststellbar. Im Laufe der Jahre blickte ich in so manche ratlosen Gesichter von Krankengymnastinnen und glaubte vorschnell einigen großmäuligen Versprechungen, die sich in der Realität schnell als ein Schwall kurzfristig erhitzter Luftmoleküle entpuppten.
   In den letzten Jahren meines KG-Besuches kam ich mir bei den sattbekannten Übungen oft wie ein Auto vor das nicht anspringt weil der Tank völlig leer ist. Trotzdem wird immer weiter und mit gebetsmühlenhafter Wiederholung versucht das Auto durch ein Drehen des Zündschlüssels zu starten. Kein Wunder wenn es nicht klappt. Genauso wie man wenn der Tank leer ist am Zündschlüssel drehen kann bis man schwarz wird, hätte ich auch ewig und ohne ein Resultat zu erzielen weiterüben können. Bei mir war es genau dasselbe, man versuchte durch ständige Muskelübungen (Drehen des Zündschlüssels) das Gehen möglich zu machen (Motor starten), was aber ohne ausreichend Gleichgewicht (Benzin) nicht funktionierte, bzw. niemals funktionieren konnte.