Bereits nach einem Jahr meinten einige andere Menschen ich wäre "stehengeblieben", was indirekt so klang als würde ich obwohl ich noch "weiterlaufen" könnte aus Bequemlichkeit nichts mehr machen. Dem war aber überhaupt nicht so. Man bleibt automatisch stehen wenn man einen Punkt erreicht hat an dem es nicht mehr weitergeht, zum Beispiel wenn man plötzlich vor einer Mauer steht. Selbst wenn man liebend gerne weitergelaufen wäre muss man dann stoppen. An fehlender Übung lag es bei mir nicht. Als alleinlebender Mensch musste ich vom ersten Tag an zu Hause ans Fähigkeitslimit gehen um die nötigen Tätigkeiten zu schaffen. Im Gegensatz dazu kamen mir die Übungen in der KG oft leicht und wie eine anstrengungsfreie Realitätssimulation vor.
   Auch bei den Gleichgewichtsstörungen gewöhnte ich mich an den Gedanken eines lebenslangen Fortbestehens dieser Behinderung. Die Akzeptanz jener Vorstellung fiel mir recht leicht, denn schon kurz nach der Erkrankung war mir klar gewesen, dass mein Gehör auch nicht einfach wiederkommt oder wiederherstellbar ist, diese Gedanken nicht neu für mich sind. Sehr wahrscheinlich sind meine Gleichgewichtsstörungen irreversibel, da sie im Gegensatz zu leichteren Formen auf direkt zwei Ursachen zurückzuführen sind. Sowohl eine Meningitis wie auch ein Schlaganfall können diese bekannten Auswirkungen haben. "Doppelt gemoppelt hält besser" sagt man oft, obwohl mir in diesem Fall einfaches "gemoppel" lieber gewesen wäre, echt.

Indirekt brachten die Gleichgewichtsstörungen auch meine Kommunikation mit Mitmenschen fast völlig zum Erliegen, wirkten sich auf persönliche Kontakte noch gravierender als das fehlende Gehör aus. Das lag an meiner persönlichen Situation, denn ich lebte alleine, wurde damals selten besucht oder angerufen und meine Möglichkeiten zur Kommunikation beschränkten sich auf die Arbeitsstelle und Besuche in Kneipen oder Punkkonzerten. Mit Menschen direkt zu kommunizieren war trotz des Wegfalls der verbalen Grundlage das kleinere Problem, wenn man nicht mehr fähig ist Menschen mit denen man theoretisch reden könnte zu erreichen, bleiben einem nur noch Selbstgespräche und zu solchen neige ich nicht.
   Bei den häufigen Bäckereibesuchen im den ersten Monaten fiel mir irgendwann auf, dass meine Stimme immer unverständlicher wurde. Komisch, denn der Sprechapparat wies doch keinerlei organische Schädigung auf. Vermutlich konnte das Gehirn wegen des fehlenden Hörens der eigenen Stimme nicht mehr klangregulativ tätig werden. Jedenfalls wurde es immer schwieriger den Verkäuferinnen mein Begehr klar zu machen. Nach wenigen Wochen stellte ich jegliche Geschäftsbesuche ein, da die Kommunikation mit immer mehr Nerverei und negativen Gefühlen verbunden war, und die ganze Anstrengung (man darf die Gleichgewichtsstörungen nicht vergessen, wegen denen das Erreichen eines nur hundert Meter entfernten Geschäftes zu einer riskanten Aufgabe wurde) war mir für das Endergebnis – Besitz und Essen einiger Brötchen – zu viel Aufwand. Also besser keine Brötchen.
   Da ich nicht mehr telefonieren konnte, dachte ich am Anfang E-Mail sei ein vollwertiger Ersatz für die verbale Fernkommunikation. Nach über einem Jahrzehnt praktischer Erfahrung sehe ich mein damaliges Denken als naiv und blauäugig an, eine typische Vorstellung eines in dieser Hinsicht gesunden Menschen der es sich angesichts eines hypothetischen Problems sehr einfach macht. In der Realität sieht alles häufig ganz anders aus. Wenn man zum Beispiel eine Frage per Handy stellt ist der Antwortende meist zeitnah zu erreichen, eine Antwort auf eine per E-Mail gestellte Frage konnte allerdings nur erfolgen, wenn dem Betreffenden ein Computer zur Verfügung stand (Smartphones und Tablet-PCs gab es noch nicht). Außerdem war es manchmal so, dass auf eine per Mail gestellte Frage nie geantwortet wurde, was man sich im Vergleich zu einem Telefonat so vorstellen muss: Man ruft jemand an, stellt eine Frage und nach Aussprechen der Worte legt der Angerufene wortlos auf. Wenn man telefonieren kann erlebt man so etwas sehr selten oder nie, aber bei E-Mail-Kommunikation habe ich diese Erfahrung in den letzten Jahren leider öfter machen müssen.
   Nach einigen Jahren fand ich es immer entwürdigender früher bekannten Menschen per Mail hinterherzurennen und darauf zu hoffen Kontakt zu jemanden zu bekommen dem ich meine Gedanken vermitteln konnte. Zudem ist die Diskrepanz zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort erstaunlich. Was man in einer Minute sagt bedeutet schnell mehrere Seiten geschriebenen Text (Das hätte mir zu diesem Zeitpunkt eigentlich klar sein sollen. Wie oft hatte ich vor der Erkrankung auf Kassette aufgenommene Bandinterviews abgetippt, was immer eine mühselige und stundenlange Arbeit gewesen war). Immer öfter stellte sich beim mailen ein schlechtes Gefühl ein, kam ich mir wegen der Menge meiner Worte wie ein Mensch vor der händeringend jemand suchte dem er eine Menge erzählen konnte, und immer öfter wurde ich durch kurze Antworten enttäuscht. Nach einiger Zeit stellte ich alle Kontaktbemühungen ein, verlegte mich auf reines Reagieren durch ein möglichst kurzes Beantworten an mich gerichteter Fragen und fühlte mich dadurch merklich besser.
   2004 tat sich eine weitere Kommunikationsmöglichkeit auf als ich von einer Bekannten ein altes Handy geschenkt bekam, das erste Handy meines Lebens überhaupt. Dies war eine deutliche Verbesserung, denn mit einem Handy war ich in einem möglichen Notfall (zum Beispiel ein vergessener Einkauf) nicht mehr ausschließlich auf E-Mail angewiesen, besaß wenn eine Antwort ausblieb eine Handlungsalternative. Schließlich nützte mir eine E-Mail mit einer Bitte um einen Einkauf wenig, wenn diese erst mehrere Tage später gelesen und beantwortet wurde.
   Da ich das zeit- und energieraubende Schreiben zwecks Gedankenaustauschs minimieren wollte begann ich mir Gedanken über mögliche Alternativen zu machen. Zuerst versuchte ich mich mit Hilfe einer speziellen Software im Erlernen des Lippenlesens, aber jenes erwies sich als viel schwerer als angenommen. Als mir eine Logopädin von einer seit ihrer Geburt gehörlosen Patientin berichtete, und jene gesagt hatte "Lippenlesen ist sehr schwer, man muss schon im Kindesalter damit beginnen, für einen Menschen der als Erwachsener sein Gehör verloren hat ist es fast unmöglich dieses zu lernen" ließ ich es endgültig sein.
   Lieber wollte ich die mir unbekannte Gebärdensprache kennenlernen. Deshalb besuchte ich im Frühjahr 2005 einen Kurs in der VHS, aber mein Interesse daran erlahmte schnell wieder, da wie im nächsten Absatz geschildert die Möglichkeiten zur akustischen Kommunikation meine Gedanken beherrschen. Übrigens schrieb ich für die Website onlinezine (inzwischen eingestellt, daher kein Link) einen kleinen Artikel darüber, den ihr hier lesen könnt.
   In jenem Frühling war ich wieder der festen Überzeugung "Glück im Unglück" gehabt zu haben. Mein linkes Ohr weist ein winzigen Hörrest auf, den ich mittels eines auf Höchststufe gestellten Hörgerätes verstärken konnte und dadurch die Geräusche des Alltags – wenn auch verzerrt klingend – erstmalig seit Jahren wieder wahrnahm. Nach Jahren der Stille klang jedes noch so profane Geräusch wie ein akustischer Hochgenuss. Sogar verbale Kommunikation ist rein theoretisch und in Ausnahmefällen auch praktisch möglich. Aber es ist sehr schwer und wegen der vielen defekten Frequenzrezeptoren extrem verzerrt. Man muss sich das vorstellen wie ein Telefongespräch mit einem weit entfernten Gesprächspartner über eine sehr schlechte Leitung. Man hört jemand sprechen, versteht aber nur Bruchstücke. Dies ist bei mir Alltag, und ich bin bei verbalen Kommunikationsversuchen stets auf eine Mischung aus hören, kombinieren und raten angewiesen. Manchmal führt dies zum Erfolg, manchmal nicht.
   Die Gebärdensprache rückte auch wieder ins Zentrum meines Interesses, auch wenn mehr als vier Jahre seit dem Schnupperkurs bei der VHS vergangen waren und ich fast alles vergessen hatte. Als 2009 meine bisherige Logopädin ihren Job aufgab kam ich auf die Idee zusammen mit ihrer Nachfolgerin Gebärdensprache zu lernen. Zwar war ich mir bewusst das Erlernte niemals praktisch anwenden zu können, aber ich hatte noch nie eine Zweitsprache gelernt, sah Gebärdensprache als eine Herausforderung an die ich meistern wollte. Diese Sprache ist sehr komplex, ihr Erlernen sehr zeitaufwändig, besonders wenn sich das praktische Üben auf eine Therapiestunde in der Woche beschränkt. Trotzdem verfügten wir nach zwei Jahren über einen Wortschatz von ungefähr 2.000 erlernten Gebärden und lasen uns gegenseitig aus Büchern vor. Dies mag als viel erscheinen, aber wenn man bedenkt, dass ein durchschnittlicher fünfzehnjähriger Mensch sich mit über 5.000 Wörtern ausdrücken kann erscheinen 2.000 Gebärden als recht wenig. Aber dennoch klappte eine rein auf Gesten beschränkte Kommunikation. Leider kündigte sie nach zwei Jahren ihre Stelle und als Folge davon hörte ich auch mit Gebärdensprache auf, da die einzige Möglichkeit einer Fortsetzung darin bestanden hätte zusammen mit einer Nachfolgerin bei Null anzufangen. Das wollte ich nicht, denn im besten Fall konnte ich erst in zwei Jahren dort weiterlernen wo ich aufgehört hatte, allerdings nur wenn die nächste Logopädin nicht zwischendurch ebenfalls kündigte. Eine solche Entwicklung lag im Bereich des Möglichen, denn innerhalb von knapp sechs Jahren war sie bereits die dritte Logopädin die ihr Beschäftigungsverhältnis beendet hatte. Bevor ich mich für viele Jahre nur mit Wiederholungen hätte beschäftigen müssen beendete ich lieber Logopädie, legte Gebärdensprache ad acta und widmete mich anderen Dingen.
   Abschließend bleibt zu sagen, dass ich immer wieder froh darüber bin jahrzehntelang gehört zu haben und dementsprechende akustische Informationen in meinem Gehirn gespeichert sind. Ich brauche etwas nicht zu hören um mir realitätsnah vorstellen zu können wie es wohl klingt. Ein Mensch der nie gehört hat verfügt logischerweise nicht über diese Informationen, jemand der nie andere Menschen sprechen gehört hat kann sich eine Unterhaltung nur sehr schwer vorstellen. Wie wichtig es ist solche Informationen gespeichert zu haben zeigt das Beispiel von Ludwig van Beethoven, der seine neunte Sinfonie in einem Zustand völliger Ertaubung komponierte. Er stellte sich einfach nur vor wie sich ein bestimmter Ton anhört, wusste dies aus der Erinnerung und brauchte den Ton nicht zwingend zu hören. Diese Meisterleistung eines menschlichen Gehirns macht mir Mut. Und überhaupt: "Et hätt noch schlimmer kumme künne".

Erstaunt registrierte ich in den ersten Wochen nach meiner Heimkehr 2003 die Tatsache ohne verbale Kommunikationsmöglichkeiten nur über einen kleinen Bruchteil der früheren Informationsmenge zu verfügen. Selbst Fernsehen zu schauen wurde sinnlos, da gerade bei diesem Medium ein Großteil der Informationen über den akustischen Weg übertragen wird, die Bilder zum Beispiel bei Nachrichtensendungen oft nur als Untermalung des Gesagten dienen. Fast jede Sendung verwandelte sich in kurzer Zeit in ein bewegtes Bilderrätsel dessen Lösung unmöglich war. Zum Glück stellten die von mir geliebten Fußballspiele eine Ausnahme in der flimmernden Fragezeichenfolge dar, denn um diese zu schauen war kein akustisches Verständnis nötig. Nur das Fehlen jeglicher hörbarer Atmosphäre sorgte am Anfang für einige Eingewöhnungsschwierigkeiten. Wegen diesem Informationsmangel hatte das Internet und eine ständig funktionierende Verbindung zu diesem rasch eine große Bedeutung für mich, denn in diesem Medium wurden Informationen fast ausschließlich schriftlich übertragen (Youtube und ähnliche Videoportale gab es noch nicht) und standen somit auch mir zur Verfügung. Sicherlich war auch die extreme Kontaktreduktion von einer nicht unerheblichen Mitbedeutung für die wachsenden Wissenslücken. Nach einigen Monaten geriet ich ihn Vergessenheit und nur noch ein kleiner Teil der Leute die ich von früher her kannte suchten den Kontakt mit mir. Der Spruch "Aus den Augen, aus dem Sinn" zeigte mir immer wieder dessen Bedeutung auf. "Aus den Augen" war ich weil ich sie wegen der Gleichgewichtsstörungen nicht mehr treffen konnte und auf persönliche Besuche angewiesen war, "aus dem Sinn" eine logische Folge der Vorworte der höchstens durch Telefonieren entgegengewirkt werden konnte, aber dies konnte ich ja auch nicht mehr, also verschwand meine Existenz aus dem Sinn vieler Menschen.
   Mein größter Fehler in der Anfangszeit bestand darin, mich ausschließlich auf Hilfe durch die offiziellen Stellen zu verlassen, mich nicht großartig um eine Unterstützung durch Privatpersonen zu kümmern. Hinterher ist man immer schlauer und derartig würde ich nicht mehr vorgehen. Die offizielle Hilfe richtet sich nach Vorschriften bei deren Erstellung anscheinend unausgesprochen davon ausgegangen wurde, dass einem bei Kleinigkeiten oder in